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16.03.2023

Wann ist der richtige Zeitpunkt, zu digitalisieren? Ein Praxisbeispiel

Marcus Jeschke

Wer sich mit Themen der Digitalisierung wie der elektronischen Rechnungsverarbeitung beschäftigt, weiß, dass vielfach extrinsische, also von außen gesteuerte Motivationsfaktoren vorliegen: Entweder müssen regulatorische Vorgaben z. B. des Gesetzgebers erfüllt werden, oder der Druck wird durch die Anforderungen von Bestands- oder Neukunden aufgebaut. Letzteres geschieht vorwiegend, wenn die Kunden im europäischen Ausland zu finden sind, denn überall um uns herum wird die elektronische Rechnung in Form einer XML-Datei immer mehr zum Standard.

Der erste Reflex: Frühzeitig, strategisch und umfassend planen.

Dazu sei hier ein konkretes Beispiel genannt: Ein renommierter, international tätiger Projektplaner ist an uns herangetreten, weil er seinen Rechnungsversand modernisieren musste: Im Inland pochten die Auftraggeber der öffentlichen Hand auf den Versand von XRechnung, und im Ausland akzeptierten die Kunden aus den nordischen Ländern statt einer PDF-Rechnung per E-Mail zunehmend nur noch elektronische Daten über das europäische Peppol-Netzwerk.

Nun könnte man annehmen, dass es besser wäre, sich frühzeitig mit solchen Themen zu beschäftigen, bevor eine derartige Drucksituation, die von auch noch von außen vorgegeben ist, entstehen kann. Im Praxisbeispiel hatte unser Kunde genau das auch getan:

Achtung, Fallstrick: Wie früh ist zu früh?

Bereits 2014 führte er ein System für die Erzeugung und den Versand von elektronischen Rechnungen ein. Er setzte damals dabei auf den Quasi-Standard ZUGFeRD in der Version 1. Dabei steht ZUGFeRD für „Zentraler User-Guide Forum elektronische Rechnung Deutschland“ und wurde von der deutschen Wirtschaft in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Wirtschaft gemeinsam entwickelt. Es schien also eine zukunftssichere Lösung zu sein.

Leider erwies sich dies als Irrtum: Bereits das nur zwei Jahre später eingeführte ZUGFeRD Version 2 ist nicht mit der ersten Version kompatibel, und moderne Anforderungen bauen auf den nach der europäischen Norm benannten EN16931-Standard, wozu z. B. die XRechnung für die öffentliche Hand in Deutschland zählt. Im Ergebnis hieß dies, dass unser Kunde eine teure Lösung hatte, die er in der Praxis nicht mehr einsetzen konnte, da niemand seinen veralteten Standard akzeptierte.

Eine konkreter Ansatz löst das Dilemma auf.

Hier zeigt sich also, dass ein strategisches frühes Reagieren zu früh sein kann – aus einem „early mover“ wird ein „too early“. Dazu kommt, dass viele Unternehmen aus dem Mittelstand weder das Personal noch das Geld haben, um solche Themen überhaupt langfristig strategisch zu planen. Die verschiedenen Krisen der letzten Jahre haben diesen Trend auch noch verschärft, viele Firmen können im Prinzip nur reagieren.
Deshalb wählten wir einen neuen Ansatz: Im ersten Schritt fanden wir gemeinsam mit dem Kunden eine schnelle und unkomplizierte Lösung, um die Rechnungen in den neuen Formaten den Auftraggebern zur Verfügung zu stellen und so den „Druck vom Kessel“ zu nehmen.

Ein strategisches frühes Reagieren kann zu früh sein – aus einem „early mover“ wird ein „too early“.

Ein strategisches frühes Reagieren kann zu früh sein – aus einem „early mover“ wird ein „too early“.

Ein pragmatischer Ansatz ist sinnvoller als eine zu früh eingeführte Lösung.

Ist diese Ersthilfe geschehen, zahlt es sich allerdings sehr wohl aus, darüber nachzudenken, wie die neu eingeführten Lösungen als Chance genutzt werden können. In unserem Beispiel haben wir überlegt, welchen weiteren Bestandskunden man elektronische Rechnungen anbieten und so langfristig binden kann; welche potenziellen Neukunden von der Lösung profitieren und wie der Vertrieb die neue Lösung nutzen kann. Zusätzlich konnten wir durch intelligente Einbindung die Effizienz in der Rechnungslegung steigern. Und natürlich existiert nun auch ein Plan, wie wir damit umgehen, falls die aktuell eingesetzten Formate obsolet werden sollten.

In Summe kann es sich also durchaus lohnen, nicht zu den „first movers“ zu gehören, sondern erst im Einsatzfall auf den Digitalisierungsdruck zu reagieren – vorausgesetzt, man hat einen flexiblen Partner an der Seite, der mit pragmatischen Lösungen im ersten Schritt unterstützen kann. Wenn dann die ersten Lösungen als Fundament stehen, kann das „Digitalisierungshaus“ darauf aufgebaut werden.

Über den Autor

Marcus Jeschke

Geschäftsführer CapeVision GmbH

Marcus Jeschke ist seit 2018 Geschäftsführer und Mitgesellschafter der CapeVision GmbH, einem Plattformanbieter für die Transformation und den Austausch von elektronischen Daten wie z.B. elektronische Rechnungen u.a. für die Immobilienwirtschaft.

Jeschke schloss zunächst eine kaufmännische Ausbildung bei Axel Springer ab und studierte anschließend Mathematik, Philosophie und Geschichte in Berlin. In die Digitalisierungsbranche kam er 2000 als Autodidakt und arbeitete zunächst als Programmierer von Datenbank-Applikationen, Spezialist für Reportings und Projektleiter bei einem Unternehmen für Kundenbindungssysteme. Später wechselte er in die Energiebranche zu einem Beratungsunternehmen, wo er bis zum Prokuristen aufstieg.